„Der Zwang zur Selbstoptimierung“

Ich öffne mein Dashboard und mir springen schon die ersten Videotitel und Blogposts entgegen, die meinen beschaulichen Morgen direkt wieder im Hamburger Grau versinken lassen. Montags sind alle immer besonders motiviert, mit dem „Work-hard-play-harder“- Finger auf uns Miesepeter zu zeigen. Ich sehe auf Instagram schön dekorierte Kalender, die ersten sponsored Posts, schwarzen Kaffee (ohne Milch + Zucker, versteht sich) und die üblichen Montags-Hashtags. Man kann sich wirklich nirgends mehr vor der ständigen Selbstoptimierung schützen, jeder, der online irgendwas zu sagen haben möchte, spricht zumindest in sehr regelmäßigen Abständen davon, wie man noch glücklicher, noch effizienter, noch produktiver, noch erfolgreicher, noch dünner, noch gesünder, noch schlauer, noch sympathischer, noch entspannter, noch charmanter und generell einfach noch BESSER IN ALLEM mit ein paar dahergetippten Lifehacks wird. Dafür bieten sich bekannterweise vor allem Neujahr und Montage an. Natürlich alles selbst getestet, für gut befunden und auf Hochglanz poliert.

Getting better everyday, sagen sie, und ich fühle mich direkt unter Druck gesetzt und schüttel schnell die Krümel meines soeben verspeisten Nutella-Toasts von der Bettdecke. Weißmehl, Industriezucker, Fett – und das alles, bevor ich mir den Schlaf aus den Augen gewaschen habe. Meine Güte, da muss ich den Kopf schütteln, was sind wir einfach gestrickt. Unsere oberflächlichen Begehrlichkeiten, der Hunger nach ein paar leichten Tipps, um unser Leben zumindest instagramtauglich auf Vordermann zu bringen, sind so leicht zu durchschauen. Eigentlich, eigentlich, ist es ja eine einfache Sache mit dem glücklich sein. Aber einfach kriegen wir nicht hin, das fühlt sich nicht richtig an. Wir wollen schon dafür schwitzen, wir wollen messbaren Erfolg haben, wir wollen steigende Gehälter, optimales Boyfriend-/Husband-Material an uns binden und grundsätzlich ein Leben führen, über das sich einen Roman zu schreiben lohnen würde. Oder zumindest einen Blog. Alles darunter ist nicht gut genug, denn zum schnöden Durchschnitt zu gehören, hieße ja auch, unter dem Radar zu fliegen. Also heißt es arbeiten: Am Image, am Body, am Scheck, am Style, am Erfolg. Vom Tellerwäscher zum Instagramer/ Blogger/ Youtuber/ Autor? So sieht wahrer Success heute aus. Denn du kannst sein, wer du willst, du kannst alles schaffen, du kannst alle deine Träume erfüllen, wenn du es wirklich willst, du musst nur hart dafür arbeiten. Bedeutet im Umkehrschluss: Schaffst du es nicht, hast du leider nicht genug gegeben, du bist den falschen Weg gegangen und hast es wohl doch nicht genug gewollt. Du bist uncool, ein Versager und definitiv keine Inspiration für Leute, die echt was aus ihrem Leben machen wollen. Autsch, Bruchlandung, dabei hat man sich doch alle Tipps zu Herzen genommen. Es klang so einfach, die Sache mit dem Geld, dem flachen Bauch, dem Sex und dem Glück.

montag

Das Leben ist kein Hollywood-Drehbuch und das muss es auch nicht, um gut, um lebenswert zu sein. Wer hat uns diesen kleinen verdammten Floh ins Ohr gesetzt? Wann haben wir aufgehört, zufrieden zu sein, dankbar, für das, was uns so über das Leben verteilt begegnet? Wann sind To-Do-Listen wichtiger geworden als Liebesbriefe? Wann haben wir das letzte Mal einen Sonnenaufgang genossen, ohne das Handy zu zücken und die Farben per Fotoapp noch ein bisschen mehr zu sättigen? Ich muss nicht jeden Tag 100% geben, ich muss nicht immer das „big picture“ sehen, mich nicht ständig zu Dingen überwinden, auf die ich keine Lust habe und verdammt nochmal jeden Tag an meinem Glück schmieden. Und wieviel glücklicher wären wir alle, wenn wir aufhören würden, uns mit unserem Optimierungszwang zu quälen? Wie viele Menschen sind an dieser Lebenslüge gescheitert?

Ich lese mir die Posts durch, schaue mir die Videos an und frage mich danach ernsthaft, wie ich mich denn jetzt bitteschön besser fühlen soll oder motivierter, um was genau zu tun oder zu sein? Ich muss Diäten ausprobieren, die nicht so klingen, E-Books kaufen, um den Geheimnissen des Erfolgs auf die Spur zu kommen, 3x pro Woche Pilates machen, um meine Mitte zu finden, To-Do-Listen schreiben und bitteschön auch abarbeiten, mich mit meiner Umwelt auseinander setzen, meinen modischen Fingerabdruck finden, meine Social Media Kanäle regelmäßig füllen, mich im Job engagieren, damit ich vorankomme und ganz wichtig: Ich muss unbedingt wissen, WAS ICH VOM LEBEN WILL und dafür gegebenfalls auch mal in die Trickkiste greifen.

Wie abhängig sind wir davon geworden, uns mit dem Leben anderer zu vergleichen und uns selbst krankhaft unter Druck zu setzen, weil wir absolut blind und gesellschaftskonform durchs Leben gehen? Wir denken, wir wären ganz anders als die anderen, individuell, unser besonderes Leben, unser besonderer Job und unsere besonderen Ambitionen würden uns in eine Art „Zwischen-Himmel-und-Erde-Level“ katapultieren, in dem der Rubel rollt, wo wir wichtig sind und uns alle Türen offen stehen – wohin diese Türen führen, ist ja erstmal egal. Wir verpassen echte Begegnungen, wir analysieren Freundschaften, wir kalkulieren den Nutzen von Menschen in unserem Umfeld, wir müssen von irgendwas getrieben sein und nennen das der Einfachheit halber „Leidenschaft“, das klingt so nett.

Was wäre denn, wir das alles nicht täten? Wenn wir einfach das tun würden, worauf wir wirklich Lust hätten? Wenn uns völlig egal wäre, was andere von uns und unserem Lifestyle halten? Wenn es niemanden interessieren würde, ob wir Cellulite haben oder nicht? Wenn es völlig ok wäre, keine Ambitionen zu haben und einfach jeden Tag zu seinem 0815-Job ins Büro zu gehen, ohne Aussicht auf den Grouphead-Posten? Wenn man eigentlich zufrieden mit seinem Gehalt wäre, auch ohne Sparkonten, Aktien und Fonds. Was wäre, wenn wir in einer Welt leben würden, in der all diese Dinge keinen Wert hätten? Bräuchten wir sie trotzdem, um unser Glück irgendwie zu messen?

Ich schließe meine Apps, lass mich nochmal ins Kissen fallen und denke über diese Abrechnung nach. Nein, davon trennen kann ich mich auch nicht, ich bin ganz und gar nicht frei davon, mich nicht ständig zu hinterfragen. Viel schlimmer, ich bin genauso getrieben davon, mein Leben permanent zu optimieren und weiß es doch eigentlich besser. Ich will inspiriert werden, ich will schöne Dinge sehen, ich will natürlich, dass jemand meine Arbeit hier bemerkt und sie gewertschätzt wird und trotzdem bleibt heute morgen ein besonders schaler Beigeschmack, als ich meine To-Do-Liste aufklappe und mir meine Punkte durchlese…

5 thoughts on “„Der Zwang zur Selbstoptimierung“

  1. Jessica

    Danke für diesen Post!!! Ich denke das so oft, hätte es aber so klar nicht formulieren können. Diese selbstoptimierung wirkt (und ist es wohl auch) so dermaßen zwanghaft, dass ich richtig Druck im Magen spüre. Und das nichtmal immer nur in meinem Leben. Da muss ich mir nur manche Snapchat-Accounts anschauen.

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    1. regina

      Liebe Jessica, lass dich davon nicht unter Drucks setzen! Wie viel von dem ganzen Quatsch real und was ausgedacht ist, kann kein Mensch mehr auseinanderhalten. Aber was einem alles suggeriert wird, tun zu müssen, damit das Leben „optimaler“ verläuft, ist Wahnsinn und kann nur stressen und unglücklich machen.
      Ich kann dir übrigens das Buch „Ich bleib so scheiße wie ich bin“ weiterempfehlen, das hat mich auch sehr zu diesem Post inspiriert :-)

      Ganz liebe Grüße an dich ! <3

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  2. Nicole

    Toller Post! Du sprichst mir aus der Seele liebe Regina. Ich ertappe mich auch selbst immer wieder dabei, über aktive Veränderungen nachzudenken, wenn ich durch Instagramm scrolle, aber zum Glück bin ich dann doch zu inkonsequent um diesem Selbstoptimierungswahn zu verfallen. Die glücklichsten Menschen in meinem Umfeld sind die, welche von dem Wort noch nicht mal was gehört haben und einfach ihr Leben leben. Liebe Grüße – Nicole

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    1. regina

      Liebe Nicole,
      haha, ja das kenne ich – ich hardere ständig mit mir, ob ich mir nicht doch vielleicht mal ein paar schlaue „Social Media Strategien“ ausdenken sollte, aber dafür fehlt mir am Ende des Tages (zum Glück) die Muße :-)

      Liebe Grüße an dich! <3

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  3. Sabi

    Liebe Regina,

    vielen vielen Dank für diesen Post! Er hat mir echt aus der Seele gesprochen und vielleicht auch ein klein wenig die Augen geöffnet. ich bin auch einer dieser Menschen, der denkt, er muss immer perfekt sein, sich selbst optimieren usw. Dann nehme ich mir vor, 3 mal in der Woche Sport zu machen, finde immer wieder Ausreden, weil ich keine Lust habe und mir nach einem anstrengenden Tag nach der Arbeit eigentlich nur noch nach einem Buch und dem Sofa ist….selbst wenn ich mich aber entschließe, nicht zu gehen und dem nachzugeben, habe ich dann den ganze restlichen Abend ein schlechtes Gewissen, weil ich eben nicht beim Sport war. Und kann mich so auch nicht entspannen. Ich muss davon wirklich wieder wegkommen. Und ich würde gerne alles einfach so hinnehmen, wie es ist und glücklich sein. Hier ist dann bei mir nur immer die Frage: wie macht ein so abartiger Kopfmensch, wie ich das bin das? :D

    Liebe Grüße
    Sabrina

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